Montag, 4. November 2013

El Salmón von Fabián Casas

Fabián Casas auf seiner Terasse 2009. Foto: Timo Berger


Im Juli 2013 erscheint ein Buch in Costa Rica erneut (und erreicht mich ein paar Monate später in Berlin), das mir viele Jahre zuvor, genauer gesagt 1999, von Daniel Durand in Buenos Aires mit auf den Rückweg nach Berlin gegeben wurde. Ich hatte ein Jahr in der argentinischen Hauptstadt studiert und um den Kontakt mit der Sprache und der dortigen Dichterszene nicht zu verlieren, hatte ich Daniel Durand gefragt, welchen Gedichtband er mir ins Deutsche zu übersetzen empfehlen würde. Er stand eine Weile zögernd vor seinem selbstgezimmerten und überbordernden Bücherregal. Dann zog er zielsicher einen Band heraus: "El salmón" von Fabián Casas. Das ist, glaube ich, leicht zu übersetzen, sagte er und reichte mir den Band, der in Luis Mangieris Verlag Libros de Tierra Firme erschienen war, mit der Zeichnung eines Lachs auf dem Buchtitel. Ich kannte den Autor nicht (wie ich später erfuhr, weilte er mit einem Stipendium genau in dem Jahr, in dem ich an der Universidad de Buenos Aires Letras studierte in Iowa und nahm an dem Writer's Programm teil). Casas zu übersetzen, war natürlich nicht so leicht wie angekündigt, aber es war eine dankbare, weil mich immer wieder von neuem beschäftigende Aufgabe. Den Autor selbst lernte ich 2000 bei meiner Rückkehr nach Buenos Aires kennen und das sollte der Beginn eines wunderbaren Austauschs über den Ozean hinweg sein. 2003 las Fabián Casas mit Cristian de Napoli, Damián Ríos, Cecilia Pavón und Paz Levinson und mir in der Casa de la Poesía. 2005 war er Gast von Salida al Mar, 2006  Gast der ersten Latinale in München und Berlin, 2007 konnte ich ihn als Juror für den Preis der Anna Seghers-Stiftung vorschlagen und er begleitete uns mit der Latinale 2007 nach Hamburg, 2009 erschien bei luxbooks eine von mir übersetzte Anthologie, die Texte aus allen seinen Gedichtbänden aufnimmt, und 2011 trafen wir uns auf der Buchmesse von Guadalajara wieder. Nicht zu vergessen: das kleine Büchlein, das Lofi, im Homepublishing irgendwann zwischen 1999 und 2000 auf einem geliehenen Laserdrucker das Licht der Welt erblickte. Der mallorquinische Fotograf Biel Salas steuerte die Fotos bei.

Hier ein Gedicht und meine Übersetzung ins Deutsche:

Mientras me lavo la cara 

Darío, parado, grita y gesticula.
Bajo una frazada marrón
Daniel se ríe y habla de sus novias.
Están borrachos y los que gritan en la cocina,
como diputados,también.
Mi vieja, resucitada,
golpea las ventanas, pidiendo entrar.

Al amanecer, bajo una claridad despiadada;
cigarrillos, libros desperdigados,
platos con comida.
Camino, despacio, hasta el baño;
sé que la desgracia está sobre nosotros,
no ahora, tampoco el año próximo,
todavía somos jóvenes, pero eso
se pierde enseguida.
No tenemos nada, pienso,
mientras me lavo la cara,
ni un oficio, ni un a herencia,
ni una casa de sólida piedra.



Während ich mir das Gesicht wasche

Darío schreit und fuchtelt im Stehen.
Unter einer braunen Decke
lacht Daniel und spricht von seinen Bräuten.
Sie sind betrunken und die, die in der Küche
wie Abgeordnete schreien, auch.
Meine auferstandene Mutter klopft ans Fenster
und will reinkommen.

Bei Sonnenaufgang, in einer schonungslosen Klarheit:
Zigaretten, verstreute Bücher,
Teller mit Essen.
Ich gehe langsam bis zum Bad.
Ich weiß, dass das Unglück über uns kommt,
nicht jetzt, auch nicht nächstes Jahr.
Noch sind wir jung, aber das
verliert sich bald.
Wir besitzen nichts, denke ich,
während ich mir das Gesicht wasche,
weder einen Beruf, noch ein Erbe,
noch ein Haus aus festem Stein.



El salmón in verschiedenen Ausgaben



Fabian Casas wurde am 7. April 1965 im Stadtviertel Boedo in Buenos Aires geboren. Er veröffentlichte die Gedichtbände „Tuca“ (Bs. As., Tierra Firme, 1990), „El Salmón“ (Bs. As., Tierra Firme, 1996), „Oda“ (Bs. As., Tierra Firme, 2003) und „El Spleen de Boedo“ (Bahía Blanca, Vox, 2003). Außerdem den Roman „Ocio“ (Bs. As., Tierra Firme 2000) und die Bände mit Erzählungen „Cuatro Fantásticos“ (Bs. As., Belleza y Felicidad Tusquet 2003), „El Bosque Pulenta“ (Bs. As., Eloísa Cartonera 2003), „Los lemmings“ (Bs. As., Casa de la Poesía 2002), sowie mehrere Bände mit Essays.

Weiterlesen:

- Fabián Casas auf lyrikline.org

Montag, 14. Oktober 2013

La canción del oficio von Osvaldo Sauma


Osvaldo Sauma. Foto: Timo Berger
Manche Bücher legen lange Wege zurück. "La canción del oficio" (Editorial Germinal, San José, 2013) reiste zwei Mal über den Atlantik und sieht immer noch einigermaßen frisch aus. Da der Paketbote vergaß zu klingeln (das macht er nie, weswegen es mittlerweile schon schwerfällt von Vergessen zu sprechen), wurde die gut 400-seitige Anthologie von Osvaldo Sauma wieder zurückgeschickt. Doch Osvaldo, den ich vergangenes Jahr bei einer Lesung in der Estación al Atlántico in San José kennenlernte, taperte ein zweites Mal mit dem gelben Pappumschlag unterm Arm zu Correos  Costarricense. Hier müsste noch viel mehr stehen - etwa dass ich Osvaldo wenige Monate später wiedertraf, auf einer grünen Insel im Lago Nicaragua (wo auch das Foto von ihm entstanden ist). Und hier wird mehr stehen - bald nach der Latinale, das schon morgen beginnt. Hier erst einmal ein Gedicht aus dem Buch als Gruß für alle Festivalbesucher:


Ratschläge für einen jungen Dichter


es reicht nicht, auf die Schultern
Satans zu steigen
den Himmel findest du dort nicht
sondern nur tief im Innern deiner selbst

Schlauheit führt dich nicht
zur dürren Unsterblichkeit
öffnet dir lediglich die Pforten des Ruhms

mach dir selbst nichts vor
lass dich nicht verführen
von den fuchsienfarbenen Lichtern
die die offiziellen Poeten verteilen

sie werden den Blut saugen
                              werden dich verwandeln
in einen Geck nach ihrem Bilde
sie werden dich lehren,
um die nötigen Beziehungen zu schachern

sag nicht Streitross statt Pferd
lass dich nicht vom Applaus betören
sag lieber Scheißstein
wie Jaime
wenn du über einen stolperst
und dass du ja nicht wie andere
moderne Dichter anstimmst
sowas hier:
Morgenstern, morgen Stern, Monster, er,
Sternenschlund,
der Farben gebiert, Narben und sofort.*




Consejos a un joven poeta


no basta con treparse
sobre las espaldas de Satanás
el cielo no está ahí
sino muy al fondo de vos mismo
la astucia no conduce
a la flaca imortalidad
tan sólo abre las puertas de la fama

no te traiconés
no te dejés seducir
por las luces fucsias
que reparten los poetas oficiales
                               te chuparán la sangre
te conventirán
en petulante a su semejanza
te enseñarán a traficar
todas las influencias necesarias

no digás corcel en vez de caballo
que no te tiente su aplauso
más bien decí pinche piedra
como Jaime
cuando te tropecés con una
y no se te ocurra cantar
como los otros poetas modernos
aquello de:
Lucero, luz cero, luz Eros,
la garaganta de la luz,
pare colores coleros, etcétera.*

* Jaime Sabines


"La canción del oficio" von Osvaldo Sauma



Osvaldo Sauma, geboren in Costa Rica, ist Dichrer, war Dozent für kreatives Schreiben von 1981 bis 2010. Er ist der Autor von mehreren Gedichtbänden, darunter "Las huellas del desencanto" (1983), "Retrato en familia" (1985), "Asabis" (1993), "Madre nuestra fértil tierra" (1997), "Bitácora del iluso" (2000) und "El libro del adiós" (2006). Gedichte von ihm wurden ins Englische, Französische, Portugiesische, Arabische und Hindi übersetzt.


Sonntag, 6. Oktober 2013

Hier drunter liegt was Besseres von Luis Chaves

Luis Chaves, 2011. Foto: Timo Berger
Ich hab es selbst noch gar nicht. Luis Chaves schon. Auf seinem Blog tetrabrik postet er Bilder von Cover und erster Seite seines neuen bei hochroth dieser Tage erschienen zweisprachigen Gedichtbändchens mit dem vielversprechenden Titel "Hier drunter liegt was Besseres / Debajo de esto hay algo mejor". Es ist nach la fotografía / das foto die zweite Auswahl von Gedichten des Costa Ricaners die in Deutschland veröffentlicht wird. Irgendwie kommt es mir so vor, als würde ich Luis Chaves schon ewig kennen. Unsere Wege kreuzten sich, etwas zeitversetzt, mehrmals. Ich studierte in Buenos Aires und kehrte immer wieder für Projekte nach Argentinien zurück. Auch Luis lebte mit Unterbrechungen in Buenos Aires, frequentierte den Neopop-Queer-Bohème-Zirkel um die Galerie Belleza y Felicidad, die es heute nicht mehr gibt. In dieser Zeit, Ende der 90er, Anfang der 2000er Jahre, gab er zusammen mit der argentinischen Dichterin Ana Wajszczuk, die damals in San José lebte, ein kleines Poetry-Fanzine heraus: Los amigos de lo ajeno. Vermittelt durch gemeinsame Bekannte lud er mich ein, ihm ein Gedicht für seine Zeitschrift zu senden. 2004 begegneten wir uns zum ersten Mal persönlich in Buenos Aires. Luis lebte damals wieder in der argentinischen Hauptstadt und wir luden ihn ein, auf der ersten Ausgabe des Festivals Salida al Mar zu lesen. In "No hay cuchillos sin rosa", einem ehemaligen Gemüseladen und Sitz des Kartonbuchverlag Eloísa Cartonera, feierten wir den Beginn des Festivals mit den internationalen Gästen. Und plötzlich stand Luis vor mir und er war genauso wie ich ihn mir vorgestellt hatte: zentralamerikanischer Optimismus gepaart mit argentinischem Scharfsinn. 2007 konnten wir ihn zur Eröffnungsnacht des Instituto Cervantes in Frankfurt einladen, 2011 endlich auch zur Latinale in Berlin. 2010 und 2012 war ich selbst in San José und lernte das Haus und die Frauen des Hauses kennen, von denen im untenstehenden Gedicht die Rede ist - oder auch nicht - und das in dem hochroth-Bändchen enthalten ist. Aber hört selbst:


Die Frauen des Hauses

Die Frauen des Hauses schlafen
und ich mache mich ans Löschen.

Das hier war länger.
Sprach von Dingen
die unwichtig sind für ein Gedicht.

Da stand: Ari, Julia, Mariajo.
Jetzt nicht mehr.

Nur noch der schimmernde Bildschirm
in einem dunklen Zimmer
und drei Herzen, die schlagen
mit der langsamen Frequenz
der Träume.


Las mujeres de la casa

Duermen las mujeres de la casa
y vengo a borrar.

Esto era más largo.
Contaba cosas
que no le importan a un poema.

Decía Ari, Julia, Mariajo.
Ya no.

Sólo queda la luz del monitor
en un cuarto oscuro
y tres corazones latiendo
con la frecuencia lenta
de los sueños.

(aus: Luis Chaves. Debajo de esto hay algo mejor / Hier drunter liegt was Besseres. Gedichte. Aus dem costaricanischen Spanisch von Timo Berger. hochroth Verlag, Berlin, 2013)


Luis Chaves auf der Latinale 2011. Foto: Timo Berger

Luis Chaves wurde 1969 in San José, Costa Rica geboren. Mit dem Band "Los animales que imaginamos" (1998) gewann er den „Premio Hispanoamericano de Poesía Sor Juana Inés de la Cruz 1997“, "Chan Marshall" (2005) wurde in  Spanien mit dem „III Premio Fray Luis de León“ ausgezeichnet. Zuletzt wurde ihm für "La máquina de hacer niebla" (2012) der „Premio Nacional de Poesía 2012“ des Kulturministeriums von Costa Rica verliehen. Seit 2006 leitet er die Schreibwerkstatt Taller de Escritura Artesanal. Er lebt mit seiner Frau und zwei Töchtern in Zapote, San José.

Weiterlesen:

tetrabrik - Blog von Luis Chaves
Luis Chaves bei hochroth

Samstag, 31. August 2013

Seudo von Martín Gambarotta

Martín Gambarotta in seiner Küche 2003. Foto: Timo Berger

"Da kannst du machen was du willst, der Sommer ist vorbei" – das Gute daran ist, die lesungslose Zeit ist vorbei. Literaturhäuser (größere und kleinere) öffnen ihre Pforten, Portale, die sich der Verbreitung von Lyrik in des Dichters Stimme widmen, werden neu aufgelegt und auch der Briefkasten füllt sich wieder mit Büchern. Gestern kam ein wunderbares Päckchen mit Büchern der Ediciones Liliputienses. Der Verleger (Dichter, Literaturkritiker und Dozent) José María Cumbreño hatte es selbst gepackt. Cumbreño kenne ich nicht persönlich noch nicht. Ich weiß nur: Er lebt in der kleinen Stadt Cáceres in der spanischen Provinz Extremadura fern ab der globalen Lyrikströme. Und gerade deshalb ist seine Unternehmung nicht nur nicht gewinnorientiert sondern auch äußerst aufregend. Im Verlagskatalog finden sich die spanischen Erstausgaben vieler zeitgenössischer lateinamerikanischer Lyriker wie Frank Baéz, Luis Chaves, Rocío Cerón, Laura Wittner, Edwin Madrid, Yanko González, Mónica de la Torre, Sergio Raimondi. Am meisten habe ich mich aber über „Seudo“ von Martín Gambarotta gefreut. Im Format etwas größer als die argentinische Originalausgabe von Ediciones VOX, dafür aber in schöner Typographie – und der zusätzliche Weißraum tut dem fragmentierte Langgedicht gut. Wie Cumbreño dazu kam dieses und die vielen anderen Gedichtbände „an der Peripherie der Peripherie“ (Selbstbeschreibung des Verlags) herauszugeben, wie er überhaupt auf die Autoren und die Texte kam, weiß ich nicht. Zu Martín Gambarotta, der auf seinem Autorenporträt die Augen zusammenkneift und mich an einen blinden Seher erinnert, fällt mir aber ein, wie ich ihn das erste Mal besucht habe. Wir saßen in der gekachelten Küche seines Apartments in Villa Crespo und tranken Mate. Keine von uns beiden sprach viel, Martin blickte oft schüchtern zur Seite. Ich hatte gerade „Seudo“ gelesen und machte ihm ein vorsichtiges Kompliment, indem ich das Format des Buches lobte, die kurzen, fragmentarischen Gedichte, die immer wieder ansetzten und Bilder, Bewegungen variierten. Und die man dennoch überall lesen könne, häppchenweise, im Bus, in der U-Bahn. Er lachte leise, sagte, ja, das hat man mir schon ein paar Mal so gesagt. Aber ich weiß nicht, seufzte er – und blickte mir dabei kurz in die Augen, als wollte er prüfen, ob ich es mit meinem Lob wirklich ernst meinte oder nur etwas nachplapperte, was ich irgendwo aufgeschnappt hatte. Ehe ich reagieren konnte, sah er schon wieder zur Seite und nahm einen weiteren Schluck Mate. Viel haben wir bei dieser Gelegenheit nicht mehr geredet. Doch das Buch zählt bis heute zu meinen Favoriten.

Gedichte aus  „Seudo“, deren Übersetzungen in „Für einen Frühlingsplan“ bei Ediciones Vox in Bahía Blanca 2011 erschienen sind*


Was du verdreckst
wirst du putzen und auch
was du umschmeißt oder in die Ecken
kippst, das hier ist kein
Zuckerschlecken, brauchst
gar nicht meckern.

Todo lo que ensuciás
lo vas a limpiar y todo
lo que vuelques o tires
en el piso, esto no es
el paraíso, te aviso.

*

Wenn man zum ersten Mal eine Grapefruit
schneidet, an einem unbekannten Ort
mit einem Messer mit runder Spitze
und kurzer Schneide, im Grunde eher geeignet
um Butter zu streichen, erscheint die Grapefruit
fremder als die Welt, die sie umgibt
derart dass – wenn man sie vor dem Teilen
zu lange aufmerksam ansieht –
sie einlädt, in Panik zu verfallen.

Cuando se corta por primera vez
un pomelo en un lugar desconocido
con un cuchillo de punta redonda
y poco filo, más apto en realidad
para untar manteca, el pomelo se vuelve
más extraño que el mundo que lo rodea
de modo que mirarlo detenidamente
por demasiado tiempo antes de partirlo
es una invitación al pánico.

*

Es ist nicht das, was ich sagen
will, es ist fast das, was ich
sagen will, es ist
das neben dem,
was ich sagen will.

No es lo que quiero
decir es casi lo que
quiero decir es
lo que está al costado
de lo que quiero decir.

Einige Bücher der Ediciones Liliputienses


Martín Gambarotta wurde 1968 in Buenos Aires, Argentinien, geboren. 1996 veröffentlichte er den Gedichtband „Punctum“ (Libros de Tierra Firme). Als weitere Gedichtbände folgten „Seudo“ (Vox, 2000), „Relapso+Angola“ (Vox, 2005), „Refrito“ (Calabaza del Diablo, 2007), „Para un plan primaveral“ (Vox, 2011).

*Es gibt noch Restexemplare.


Weiterlesen:

Verlagsseite der Ediciones Liliputienses
Martín Gambarotta auf Lyrikline (Funktioniert erst nach dem Relaunch morgen)
Martín Gambarotta bei luxbooks

Dienstag, 20. August 2013

Sergio Raimondi in Berlin


Ingeniero White, der Hafen von Bahía Blanca. Foto: Timo Berger

Der Dichter Sergio Raimondi in Lesung & Gespräch mit
Jorge Locane und Timo Berger

Donnerstag, 12. September, 20 Uhr.
Café-Buchhandlung La Rayuela, Südstern 2, 10961 Berlin. Sprache: Dt./Sp. Im Anschluss lädt der Berenberg Verlag auf ein Glas Wein ein. Eintritt frei

Immer wieder ist es der Hafen von Sergio Raimondis Heimatstadt Bahía Blanca, der in seinen Gedichten zum Ausgangspunkt der lyrischen Erkundung einer Welt wird, die über die Grenzen Argentiniens und Südamerikas weit hinaus reicht. Im Wörterbuch dieses großartigen Dichters werden Verkehrsrouten, Produktionsanlagen und Erfindungen, mit denen der Mensch seinen Planeten durchrastert und durchrechnet hat, zum Ausgangspunkt einer weit fliegenden, in der literarischen Form gleichwohl streng gehandhabten Betrachtung der Welt und ihrer Verwandlung. Alle Motive, die diesen Versen ihr Thema geben, münden in einen lyrisch gefassten Gedanken darüber, wie der Mensch in diesen modernen Zeiten lebt.

Sergio Raimondi: Für ein kommentiertes Wörterbuch. Aus dem Spanischen von Timo Berger (Berenberg Verlag, Berlin, 2012)

Organisiert von alba – lateinamerika lesen in Zusammenarbeit mit dem Verlag Berenberg. Unterstützt von der Argentinischen Botschaft in Berlin

***

Lectura y conversación del poeta argentino Sergio Raimondi con
Timo Berger y Jorge Locane

Jueves 12 de septiembre, 20 hrs.
Café-Librería La Rayuela, Südstern 2, 10961 Berlín. Idioma: esp./al. Vino de honor: gentileza de la editorial Berenberg. Entrada libre y gratuita

El puerto de Bahía Blanca, ciudad natal de Sergio Raimondi, se impone como punto de partida para la exploración lírica de un mundo que sobrepasa ampliamente los límites de Argentina y Sudamérica. En el diccionario de este excepcional poeta, las rutas de transporte, las plantas de producción y los inventos tecnológicos con los cuales los seres humanos han racionalizado y sometido los planetas se convierten en disparador para un examen del mundo y los modos de gestionarlo. Un tipo de operación que se permite amplios vuelos sin abandonar una rigurosidad que se manifiesta incluso en la forma. Todos los motivos que aportan algo a estos versos confluyen en una reflexión poética acerca de cómo vive el ser humano en estos tiempos modernos.

Organizan alba – leyendo latinoamerica en colaboracion con la Editorial Berenberg. Patrocinado por la Embajada Argentina en Berlín



Montag, 12. August 2013

Von der Beiläufigkeit des Büchermachens: Besuch bei hochroth

Schneiden
Stanzen
Noch mal schneiden
An der Papier-Guillotine

Der 2-D-Drucker. Fotos: Timo Berger

Stell dir vor es ist Sonntag früher Abend, der Sommer liegt in den letzten Zügen und du sitzt im Berliner Zimmer einer Friedenauer Wohnung. An der Wand steht eine Papier-Guillotine, um den Couchtisch herum sitzen die Mitglieder eines kleinen unabhängigen Verlags. Es ist „Drucktag“ wie einer von ihnen sagt und dann anfügt: „Eigentlich haben wir schon gedruckt und alle bringen nur die zuhause bedruckten Bögen mit“ „Es müsste Schneide-, Falz, Klebe-, Binde-, Stanz- und Stempeltag heißen“ sagt eine andere. Und in der Tat ist das, was an diesem Abend in dieser Stube passiert. Konzentrierte, über die schmalen Bändchen geneigte Häupter, ruhige Hände und doch geschieht alles mit einer beneidenswerten Beiläufigkeit. Du stellst Fragen, wie druckt ihr? In welchen Auflagen? Was sind die einzelnen Produktionsschritte? Wie kommt ihr zu euren Autoren? Seit wann macht ihr das ganze? Wie kamt ihr auf die Idee? Und bekommst umgehend Antwort. Und ehe du dich versiehst, schiebt dir einer einen schwarzen Band über den Tisch: „Das ist der Andruck vom neuen Luis Chaves, schau mal ob alles stimmt!“ Und ein anderer lässt ein letztes Mal das Messer der Guillotine fallen, blickt in die Runde und verkündet: „Drucktag beendet!

Noch ein paar fertige Bücher ...

hochroth versteht sich laut Selbstaussagen als Modellprojekt zur alternativen Verlagsszene. Der Verlag will alternative Arten des Publizierens ausprobieren und weitere Verlagsinitiativen anregen. hochroth setzt trotz e-book und online-publishing auf das Buch als haptischen Genuss. Inzwischen ist ein europaweites Netzwerk mit Dependancen in Budapest, Paris und Riga entstanden.


Weiterlesen:
Verlagswebseite von hochroth
Verlagsnetzwerk von hochroth

Sonntag, 4. August 2013

Karateka von Clara Muschietti

Clara Muschietti. Foto: Estela Fares

Heute erreichen mich zwei Bücher, die sowohl die Absenderin als auch ich schon als verschollen wähnten. Gut sechs Wochen waren sie unterwegs, lagen vermutlich als "verdächtige" Einschreiben (Zertifiziert) beim Zoll. Keiner kann sagen ob auf dem diesigen oder dem hiesigen Ufer des Atlantiks. Trotz dieser langen Verweildauer im Trockendock konservieren die Gedichtbände - einmal aus dem Umschlag gezogen und aufgeschlagen - dennoch Erinnerungen. Das eine Buch, veröffentlicht 2007, riecht nach einer alten, vollgestapelten Bibliothek, die Seiten sind feucht und mir schlägt unvermittelt Modergeruch entgegen. Das andere duftet wie eine frisch gewischte Küche, das typische artifiziell-scharfe Putzmittel der aufstrebenden (und daher besonders hygienebewussten) Mittelschicht. Ein ganzer olfaktorischer Kosmos tut sich auf und ich habe noch keinen Vers in den beiden Bänden gelesen! Wie mag die Autorin wohl sein? Wie ist ihre Wohnung, ihre Bibliothek? Wie geht sie mit Büchern um? Kocht sie viel und gerne oder bestellt sie alles beim Chinesen oder Peruaner um die Ecke? Hat sie eine Femme de Ménage mit einer Vorliebe für aggressive Grundputzmittel oder räumt sie selbst auf? Wir kennen uns nicht persönlich, aber wie heutzutage so oft, wurden einander durch gemeinsame Freunde empfohlen: "Das musst du unbedingt lesen, sonst bist du out". Und in der Tat: Hatte ich einmal die Geruchsschranke überwunden, hörte ich nicht auf Clara Muschietti zu lesen und übersetzte schon bald (in progress) das erste Fragment eines Zyklus aus "Karateka", das im Anschluss wiedergegeben wird.


Taquicardia

No puede haber viento más fuerte que este.
Afuera las hojas revueltas, adentro
la certeza: todo esto va a terminarse.

Nos vamos, en algún momento vamos a irnos. Y por ahora
sólo dejamos gran parte de nuestra cabellera oscura

en una peluquería moderna. No queríamos.

No sabemos si correr o quedarnos,
no sabemos si mentías.
No sabemos si mentíamos.

Ese gato me acompaña indiscriminadamente, le agradecemos tanto pero
él nos agradece su conversión doméstica,
techo y comida a cambio de ser una pequeña sombra blanca de mi cuerpo
que también es blanco y pequeño.

Pensamos en las peores enfermedades,
y lloramos,
nos miramos el cuerpo meticulosamente
nos examinamos con rigor sin ciencia
ya estamos seguras
vamos a morirnos.

Si llegamos a viejas vamos a estar agradecidas.
Si mañana sale el sol vamos a estar agradecidas.
Si mañana la casa queda sin catástrofe vamos a estar agradecidas.
El cuerpo pesa menos se lo atribuimos a la enfermedad que nos atribuimos.

Más miedo tenemos, más amamos la vida.

A lo lejos unas figuras humanas,
no distingo a nadie, no hay nombres
ni fechas de nacimiento,
¿serán mis hermanos?

De muy cerca las caras se deforman,
se vuelven accesibles.
Tu cara está, cuando me levanto está, cuando me acuesto está,
cuando duermo está. Tu cara de lejos,
mi cuerpo de lejos me resulta
irreconocible, las imágenes que me diste
me distrajeron, se nos veía realmente felices.
De cerca soy yo, de lejos parezco mi madre.

No podemos saber si esto va a durar, no podemos saber hasta qué día,
en qué hora exacta vamos a despedirnos.
El día que caigamos definitivamente va a ser uno,
no sabemos cuál. Ojalá haya sol
y que estemos todos grandes.

No puede haber sol más fuerte que éste,
mi piel se enrojece, mi corazón ya estaba.
Ahora parecemos todos grandes, madre
y usted no se parece a la de las fotos,
nosotros todavía nos adivinamos en esa gente de vida corta.

La verdad de los corazones es improbable.
No sé si a la noche, cuando estoy sola
en la cama, tengo taquicardia, no sé si es eso
o es el eco de mi vida retumbando en el silencio.

No hay suelo más seguro que este.
Cuerpo a tierra.
Al ras del mundo, todos los pies son demasiado lo mismo.

Entraste a la pieza y me dijiste “estás acostada”
quise decirte que estaba aplastada pero no me pareció prudente. Fingí dormir.
Te fuiste caminando muy lento, sin hacer ningún ruido, como
negando la propia vida.
Te lo quise agradecer pero tenía que seguir dormida, si no ibas a pensar que habías fallado.

De tarde dormir es otra cosa.


Herzjagen

Es kann nicht noch schlimmer stürmen.
Draußen die aufgewirbelten Blätter, drinnen
die Gewissheit: All das geht vorüber.

Wir werden gehen, irgendwann werden wir gehen.
Und jetzt
trennen wir uns erst mal von dem Großteil unserer schwarzen Haare
bei einem hippen Friseur. Wir wollten es nicht.

Wir wissen nicht, ob wir davonrennen sollen oder bleiben,
wissen nicht, ob du gelogen hast.
Wir wissen auch nicht, ob wir gelogen haben.

Dieser Kater weicht nicht von meiner Seite – egal was passiert, wir sind ihm so dankbar aber
er dankt uns mit seiner Verwandlung zum Haustier,
Dach und Futter im Austausch dafür, ein kleiner
weißer Schatten meines Körper zu sein,
der ebenfalls weiß und klein ist.

Wir durchstehen die schlimmsten Krankheiten,
und weinen,
wir betrachten unsere Körper eingehend
wir untersuchen uns sorgfältig und ohne Sachverstand
und sind uns sicher
wir werden bald sterben.

Wenn wir dennoch alt werden, werden wir dankbar sein.
Wenn Morgen die Sonne herauskommt, werden wir dankbar sein.
Wenn sich Morgen Zuhause keine Katastrophe ereignet, werden wir dankbar sein.

Der Körper wiegt weniger,
wir führen es auf die Krankheit zurück, die wir uns andichten.
Umso mehr Angst wir haben, desto mehr lieben wir das Leben,

In der Ferne einige menschliche Gestalten,
ich erkenne niemanden, es gibt weder Namen
noch Geburtsdaten,
sind es meine Geschwister?

In nächster Nähe verformen sich die Gesichter,
werden greifbar.
Dein Gesicht ist da, wenn ich aufwache, wenn ich mich hinlege,
wenn ich schlafe. Dein Gesicht in der Ferne,
mein Körper in der Ferne ist
nicht wiederzuerkennen, die Bilder, die du mir gabst,
lenkten mich ab, man hielt uns für glücklich.
Aus der Nähe bin ich es, aus der Ferne sehe ich wie meine Mutter aus.

Wir wissen nicht, ob das andauern wird, wir können
nicht wissen an welchem Tag,
zu welcher Stunde genau wir uns verabschieden werden.
Der Tag, an dem wir endgültig abnippeln werden, wird ein Tag sein,
aber wir wissen nicht welcher. Hoffentlich scheint die Sonne
und wir sind alle schon alt.
Die Sonne kann nicht stärker scheinen als heute,
meine Haut wird rot, mein Herz war es schon.
Jetzt sehen wir alle alt aus, Mutter,
Sie sehen nicht so aus wie die auf den Fotos,
wir wähnen uns immer noch in diesem Leuten mit kurzen Leben-

Die Wahrheit der Herzen ist unwahrscheinlich.
Ich weiß nicht, ob ich nachts, wenn ich allein im Bett
liege, Herzjagen habe, ich weiß nicht, ob es das ist
oder der Widerhall meines Lebens in der Stille.

Es gibt keinen festeren Boden als den hier.
Körper auf der Erde.
Auf der Höhe der Welt sind alle Füße viel zu sehr dasselbe.

Du kamst ins Zimmer und sagtest: „du schläfst ja“
ich wollte sagen, ich bin nur platt, aber ich hielt es für keine gute Idee. Tat so, als ob ich schliefe.
Du bist sehr langsam gegangen, ohne eine Geräusch zu machen, als
ob du das Leben selbst negiert hättest.
Ich wollte dir danken, musste mich aber weiter
schlafend stellen, sonst hättest du gedacht, du hättest versagt.
Es ist was anderes zu schlafen, wenn es spät ist.




Clara Muschietti wurde 1978 geboren. Sie ist Fotografin, Autorin und Schauspielerin. Sie hat zwei Gedichtbände veröffentlicht “La campeona de nado” (iRojo, Buenos Aires, 2007) und „Karateka“ (El fin de la noche, Buenos Aires, 2010). Gedichte von ihr erschienen in der Anthologie „Poetas argentinas 1968-1980“ (ediciones del dock, Buenos Aires, 2007).

Weiterführende Links:
Clara Muschietti liest ...
Blog von Clara Muschietti

Dienstag, 23. Juli 2013

Für ein kommentiertes Wörterbuch von Sergio Raimondi


Sergio Raimondi, 2008 in Ingeniero White, Sonnenuntergang im argentinischen Winter. Foto: Timo Berger


Vergangenes Jahr durfte ich mich mehrere Monate mit Sergio Raimondis in Argentinien noch unveröffentlichtem aktuellen Manuskript beschäftigen und gemeinsam mit ihm Gedichte auswählen für eine Übersetzung ins Deutsche. Diese erschienen im August 2012 dann im Berliner Berenberg-Verlag und schaffte es Anfang 2013 auf den ersten Platz der Weltempfänger Bestenliste. Für Sergio Raimondis Gedichte begeistere ich mich aber als Leser und Übersetzer schon länger. Zum ersten Mal begegneten mir die Texte 2003 in Buenos Aires. Eine befreundete Dichterin, Cecilia Pavón, bei der ich damals zwei Wochen wohnte, drückte mir den Band "Poesía Civil" in die Hand und sagte in ihrer immer leicht ironischer Art: Das musst du lesen, man sagt, es sei enorm wichtig. Ich las die Gedichte oder versuchte es. Sie waren voller Fachvokabeln, die sich mir nicht sofort erschlossen, der Satzbau war teilweise ungewöhnlich "latinisiert", die Bilder oft dunkle Metaphern bisweilen Oxymora. Die Gedichte selbst wie opake Kolumnen aufs Blatt gesetzt. Und doch sprachen die Gedichte von etwas was jenseits der poetischen Tradition und des Fokus der meisten zeitgenössischen Dichter lag: vom Alltag der Krabbenpuler, von den Hochseetrawlern und von den den petrochemischen Anlagen in Ingeniero White, dem Hafen von Bahía Blanca - der Stadt, in der Sergio Raimondi wohnt.
Sergios aktuelles Projekt ist ebenso außergewöhnlich und hat den Titel "Para un diccionario crítico de la lengua", auf Deutsch in etwa: "Beiträge zu einem kommentierten Wörterbuch" Einen dieser Beiträge, der nicht bei Berenberg, dafür aber bald zusammen mit anderen noch unveröffentlichten Gedichten Raimondis Anfang Oktober in der Literaturzeitschrift alba* erscheint und mir sehr gut gefällt, folgt nun hier.


W para designar nombres y lugares
distantes. En inicio de palabra provoca
la mueca incómoda de quien pronuncia
con la duda flagrante de lo no propio,
salvo en el caso del estudioso que ve
la ocasión justa para marcar diferencia
y tuerce y contorsiona entonces labios
como si se dispusiera a besarse a sí
mismo. Aunque se deletree doble ve
y en la hoja se dibuje un molde de flan,
la pronunciación estudiosa se resiste
a marcar la distancia no sólo geográfica
y suaviza con sutileza Vagner para obviar
el escándalo de un Wagner barbarizado
pero más justo con esa música militar
acostumbrada a gritos y explosiones,
si bien cabe destacar que transcripciones
como en el caso de wagon, aquí vagón,
o como en watt, aquí vatio, son acordes
en su simplificación a la hora de señalar
nuestra posición lateralizada y menor
en el marco de la economía mundial.


W dient der Bezeichnung fremder Orte
und Namen. Am Wortanfang, bringt es
den Sprecher dazu, sein Gesicht zu verziehen,
zu stocken: Das kenn ich doch gar nicht!
Ganz anders den Gelehrten, der den
Augenblick gekommen sieht, sich von den
anderen abzuheben, und seine Lippen schürzt,
vorstülpt, als würde er sich gleich selbst
küssen. Auch wenn man es als Doppel-Vau
buchstabiert und wie ein Puddingförmchen
malt, weigert sich die gehobene Aussprache,
die nicht nur geografische Ferne zum We
anzuerkennen, sonder macht den Vagner gar
noch weicher, um einen verhunzten Wagner
zu vermeiden - was aber dessen militärischer,
von Schreien und Explosionen satter Musik
eher gerecht würde; wenngleich man
im Gegenzug anmerken müsste, dass
Umschriften wie bei Waggon, hier vagón,
oder bei Watt, hier vatio, nützlich sind, weil
sie in ihrer Vereinfachung auf unsere Lage
am Rande der Weltwirtschaftsordnung verweisen.

Poesía Civil, Für ein kommentiertes Wörterbuch und Zivilpoesie von Sergio Raimondi


Sergio Raimondi, geboren 1968 in Bahía Blanca, Argentinien, ist Schriftsteller und Professor für Zeitgenössische Literatur an der ­Universidad del Sur. Er lebt in Bahía Blanca, wo er seit 2011 auch Kulturdezernent ist.

Weiterführende Links // Enlaces:
Gespräch über die Übersetzung von Sergios Gedichten
Berenberg Verlag
Sergio liest vor auf der lyrikline.org
Latin.log
fixpoetry

*alba - lateinamerika lesen ist eine Zeitschrift, die ich 2011 angeregt von Guillermo Bravo gründen helfen durfte, und die sich der Verbreitung junger lateinamerikanischer Literatur verschrieben hat. Zwei der drei Ausgaben sind hier als E-Papier nachzulesen.

Mittwoch, 17. Juli 2013

Ruta Dos von Daniel Calabrese


Daniel Calabrese 2010 in Masaya, Nicaragua. Foto: Timo Berger
Vor ein paar Tagen schon erreichte mich der Gedichtband "Ruta Dos" von Daniel Calabrese (Aguilar, Santiago de Chile, 2013). Den argentinischen Dichter, der seit 1991 in Santiago de Chile lebt, lernte ich 2010 bei Festival Internacional de Poesía in Granada kennen. Einmal lasen wir zusammen in einer Schule in Masaya. Im selben Munizip befindet sich aus der gleichnamige aktive Vulkan. Nach der Lesung verzichteten wir darauf, im Kleinbus wieder nach Granada zurückzufahren, und nahmen ein Taxi, das uns bis an den Vulkanrand brachte. Schwefeldämpfe benebelten uns und der Wind zerzauste unsere Haare. Nach den vielen Jahren in Chile hat Daniels argentinischer Akzent sich verschliffen und seine Redeweise sich ein wenig dem leiseren Chilenischen angenähert. Er sprach so angenehm wie der Tonfall, in dem seine unaufgeregten, wohlgeformten Gedichte gehalten sind, von denen ich mich hier an eine Übersetzung wagen darf.


Posición

Soy el mozo que me atiende,
el tipo que me cuida el auto,
la vieja que lava mi ropa.
Y todos los días, un poco,
aquellos ojos que miran desde lejos.

Soy el jefe victorioso,
ese que ordena mi vida y sus necesidades,
pero soy también un perro modesto
que merodea por la plaza
y a veces el carcelero que tiene el aura
muy chica, pegada a su cabeza.

En general, soy todos ellos
cuando tengo los ojos cerrados.


Haltung

Ich bin der Kellner, der mich bedient,
der Kerl, der auf mein Auto aufpasst,
die Alte, die meine Wäsche wäscht.
Und jeden Tag ein wenig jene Augen,
die mich aus der Ferne betrachten.

Ich bin der erfolgreiche Chef,
der mein Leben ordnet und meine Bedürfnisse
aber ich bin auch der unscheinbare Hund,
der um den Platz streunt
und manchmal der Wärter, dessen Aura
winzig ist und ihm am Schädel klebt.

Im Großen und Ganzen bin ich sie alle,
wenn meine Augen geschlossen sind.



Der neue Gedichtband "Ruta Dos". Dahinter "Oxidario" von 2001.

Daniel Calabrese, geboren 1962 in Dolores (Provinz Buenos Aires) lebt seit 1991 in Santiago de Chile. Er hat mehrere Gedichtbände veröffentlich. Seine Gedichte wurden ins Englische und Japanische übersetzt. Er betreut die Veröffentlichungen des Verlags RIL editores in Santiago de Chile.

Dienstag, 9. Juli 2013

La Pajera de Once von Washington Cucurto


Washington Cucurto in einem Internetcafé in der Sonnenallee, Berlin, Neukölln, 2004. Foto: Timo Berger


Heute erreichen mich drei Bücher von Washington Cucurto. Eines davon möchte ich heute hier vorstellen. La Pajera de Once lautet der Titel, erschienen im Juni 2012 bei VOX in Bahía Blanca - ein Projekt zwischen Bildender Kunst und Independantverlag mit einem Verleger (Gustavo López) genauso unermüdlich wie Washington Cucurto selbst, der in seinem bürgerlichen Leben eigentlich Santiago Vega heißt. "Cucu", wie ihn in seine Freunde bisweilen nennen, lernte ich 1998 im argentinischen Winter in Buenos Aires kennen. Ein Gruppe von Dichterinnen, die ursprünglich aus Bariloche stammten und zum Studieren in die argentinische Hauptstadt gekommen waren, spannte damals jeden Samstag nachmittag eine Wäscheleine zwischen die Bäume der Plaza Almagro und hängte daran Gedichte auf. Passanten wurden angehalten, sie zu lesen, mitzunehmen oder gegen eigene einzutauschen. Eines Tages brachten Freunde der Dichterinnen (ich weiß nicht mehr ob Mario Varela, José Villa oder Daniel Durand) einen noch etwas schüchternen Jungen mit, der mir aber sofort auffiel, weil er sich anders bewegte, anders sprach als die Dichter, die ihn mitgebracht hatten. Er hatte große, forsche Augen, die alles sehr genau registrierten. Und dann bat man ihn, ein Gedicht zu lesen. Er zog eine Zeitschrift (La Novia de Tyson) aus einer Tasche und las: Oración de un repositor de supermercado (Gebet eines Regalauffüllers im Supermarkt). Ein Langgedicht über Fußballfans aus den Vororten und die Dialektik ein Argentinier aus der Unterschicht zu sein: ökonomisch marginalisiert und in der politischen Gedankenwelt der (vermeintliche) Protagonist der Nation. Ich war hin und weg. Daniel Durand versicherte mir damals (oder einige Tage später), das Gedicht sei unübersetzbar. Allein schon wegen der Schmähnamen der Fußballclubs. 2002 erschien dann eine erste Nachdichtung in der Leipziger Literaturzeitschrift edit, 2004 dann beim Berliner Süßwarenautomatenverlag SuKuLTuR eine überarbeitete Version in der Sammlung Die Maschine, die kleine Paraguayerinnen macht. Aus Cucurto aktuellem Gedichtband nun ein Gedicht und meine Übersetzung ins Deutsche (Work in Progress).


Leónidas Carlos Lamborghini

Ayer murió Leónidas Lamborghini,
no sé si salió en el diario,

Me llamó Santiago Llach
y me dijo: “Cucu, tildó el Lambo”.
¿O fue un mensajito de texto?

No importa. Lo que sí sé aunque
no venga al caso, es que el poeta
Martín Rodríguez mandó un mail
sin contenido, con el asunto:
“Murió la madre de Alejandro Rubio”.
Eso fue todo y eso es todo.

Me acuerdo que la noche que murió Mangieri
Fabi me llamó y me tiró mala onda.
Me preguntó si iba a ir al velorio y le
dije que no soportaba los velorios.

“Con todo lo que hizo por vos
y no querés ir al velorio”.

Estuve mal y estuvo mal.
Pero, ¿qué voy a ir a hacer a un velorio?
A José Luis prefiero recordarlo lleno de vida,
con el maletín lleno de libros por el centro.

Mientras escribo esto está muriéndose Abundio,
el pizzero de los tomates podridos.
Me dicen los vecinos: “¿vas a hacer algo?”
¡Qué quieren que haga…!

Murió mi padre, murió Cassius Clay, murió George Perec;
Gregory Corso murió en Roma.
Un día morirá Juan Gelman y Juanita Bignozzi,
yo y mis hijos y todos. No importará, por supuesto.
Es una obviedad lo que digo.
Es increíble que la muerte sea una obviedad…

Mi vieja me llama y me dice (ella no morirá nunca):
-“¡Devolveme la olla que te presté!”.



Leónidas Carlos Lamborghini

Gestern ist Leónidas Lamborghini gestorben,
ich weiß nicht, ob es schon in der Zeitung stand,

Santiago Llach rief mich an
und sagte: "Cucu, Lambo ist hinüber".
Oder war es eine SMS?

Egal. Wo ich mir allerdings sicher bin,
auch wenn es damit nichts zu tun hat
der Dichter Martín Rodríguez schickte eine Mail
ohne Inhalt mit dem Betreff:
“Die Mutter von Alejandro Rubio ist tot”.
Das war alles und ist es noch.

Ich erinnere mich, dass mich Fabi in der Nacht,
in der Mangieri starb, anrief und anmachte.
Er fragte, ob ich zur Beerdigung ginge und ich
antwortete, dass ich Beerdigungen nicht ertrüge.

“Er hat so viel für dich getan
und du willst nicht mal zur Beerdigung”.

Das war falsch von mir.
Aber, was hätte ich auf einer Beerdigung verloren?
An José Luis errinnere ich mich lieber am Leben,
mit dem Koffer voller Bücher im Zentrum.

Während ich das hier schreibe siecht Abundio dahin,
der Pizzabäcker der verfaulten Tomaten.
Die Nachbarn sagen zu mir: “Machst du was?”
Was soll ich denn machen …!

Mein Vater ist gestorben, Cassius Clay, George Perec;
Gregory Corso ist in Rom gestorben.
Eines Tages sterben auch Juan Gelman und Juanita Bignozzi,
ich und meine Kinder, alle. Egal wer, selbstverständlich.
Es lieg auf der Hand, was ich sage.
Es ist unglaublich, dass der Tod so selbstverständlich ist …

Meine Mutter ruft mich an und sagt (sie wird nie sterben):
“Bring mir den Topf zurück, den ich dir geliehen habe!”


Der aktuelle Titel mit einem Manuskript von Washington Cucurto


Washington Cucurto (alias Santiago Vega) wurde 1973 in Quilmes, einer Stadt im Speckgürtel von Buenos Aires geboren. Er veröffentlichte Gedichtbände und Erzählungen und (unter anderen) den Roman "Cosa de Negros". 2004 gründete er den Verlag Eloísa Cartonera der seitdem in Zusammenarbeit mit ehemaligen Papiersammlern Kartonbücher herstellt. 2012 wurde das Projekt mit dem Preis der niederländischen Prince Clause Foundation ausgezeichnet. Seine Texte wurden ins Englische, Französische, Portugiesische und Deutsche übertragen. Washington Cucurto lebt in Buenos Aires.


Weiterführende Links // Enlaces:

Gedicht von Washington Cucurto im Latin.Log // Poema de Washington Cucurto
Entrevista con Washington Cucurto
Prolog zu "Mehr als Bücher", in Berlin erschienene Anthologie mit Kartonbuchautoren // Prólogo de "Más que libros", antología publicada en Berlín de autores cartoneros