Dienstag, 23. Juli 2013

Für ein kommentiertes Wörterbuch von Sergio Raimondi


Sergio Raimondi, 2008 in Ingeniero White, Sonnenuntergang im argentinischen Winter. Foto: Timo Berger


Vergangenes Jahr durfte ich mich mehrere Monate mit Sergio Raimondis in Argentinien noch unveröffentlichtem aktuellen Manuskript beschäftigen und gemeinsam mit ihm Gedichte auswählen für eine Übersetzung ins Deutsche. Diese erschienen im August 2012 dann im Berliner Berenberg-Verlag und schaffte es Anfang 2013 auf den ersten Platz der Weltempfänger Bestenliste. Für Sergio Raimondis Gedichte begeistere ich mich aber als Leser und Übersetzer schon länger. Zum ersten Mal begegneten mir die Texte 2003 in Buenos Aires. Eine befreundete Dichterin, Cecilia Pavón, bei der ich damals zwei Wochen wohnte, drückte mir den Band "Poesía Civil" in die Hand und sagte in ihrer immer leicht ironischer Art: Das musst du lesen, man sagt, es sei enorm wichtig. Ich las die Gedichte oder versuchte es. Sie waren voller Fachvokabeln, die sich mir nicht sofort erschlossen, der Satzbau war teilweise ungewöhnlich "latinisiert", die Bilder oft dunkle Metaphern bisweilen Oxymora. Die Gedichte selbst wie opake Kolumnen aufs Blatt gesetzt. Und doch sprachen die Gedichte von etwas was jenseits der poetischen Tradition und des Fokus der meisten zeitgenössischen Dichter lag: vom Alltag der Krabbenpuler, von den Hochseetrawlern und von den den petrochemischen Anlagen in Ingeniero White, dem Hafen von Bahía Blanca - der Stadt, in der Sergio Raimondi wohnt.
Sergios aktuelles Projekt ist ebenso außergewöhnlich und hat den Titel "Para un diccionario crítico de la lengua", auf Deutsch in etwa: "Beiträge zu einem kommentierten Wörterbuch" Einen dieser Beiträge, der nicht bei Berenberg, dafür aber bald zusammen mit anderen noch unveröffentlichten Gedichten Raimondis Anfang Oktober in der Literaturzeitschrift alba* erscheint und mir sehr gut gefällt, folgt nun hier.


W para designar nombres y lugares
distantes. En inicio de palabra provoca
la mueca incómoda de quien pronuncia
con la duda flagrante de lo no propio,
salvo en el caso del estudioso que ve
la ocasión justa para marcar diferencia
y tuerce y contorsiona entonces labios
como si se dispusiera a besarse a sí
mismo. Aunque se deletree doble ve
y en la hoja se dibuje un molde de flan,
la pronunciación estudiosa se resiste
a marcar la distancia no sólo geográfica
y suaviza con sutileza Vagner para obviar
el escándalo de un Wagner barbarizado
pero más justo con esa música militar
acostumbrada a gritos y explosiones,
si bien cabe destacar que transcripciones
como en el caso de wagon, aquí vagón,
o como en watt, aquí vatio, son acordes
en su simplificación a la hora de señalar
nuestra posición lateralizada y menor
en el marco de la economía mundial.


W dient der Bezeichnung fremder Orte
und Namen. Am Wortanfang, bringt es
den Sprecher dazu, sein Gesicht zu verziehen,
zu stocken: Das kenn ich doch gar nicht!
Ganz anders den Gelehrten, der den
Augenblick gekommen sieht, sich von den
anderen abzuheben, und seine Lippen schürzt,
vorstülpt, als würde er sich gleich selbst
küssen. Auch wenn man es als Doppel-Vau
buchstabiert und wie ein Puddingförmchen
malt, weigert sich die gehobene Aussprache,
die nicht nur geografische Ferne zum We
anzuerkennen, sonder macht den Vagner gar
noch weicher, um einen verhunzten Wagner
zu vermeiden - was aber dessen militärischer,
von Schreien und Explosionen satter Musik
eher gerecht würde; wenngleich man
im Gegenzug anmerken müsste, dass
Umschriften wie bei Waggon, hier vagón,
oder bei Watt, hier vatio, nützlich sind, weil
sie in ihrer Vereinfachung auf unsere Lage
am Rande der Weltwirtschaftsordnung verweisen.

Poesía Civil, Für ein kommentiertes Wörterbuch und Zivilpoesie von Sergio Raimondi


Sergio Raimondi, geboren 1968 in Bahía Blanca, Argentinien, ist Schriftsteller und Professor für Zeitgenössische Literatur an der ­Universidad del Sur. Er lebt in Bahía Blanca, wo er seit 2011 auch Kulturdezernent ist.

Weiterführende Links // Enlaces:
Gespräch über die Übersetzung von Sergios Gedichten
Berenberg Verlag
Sergio liest vor auf der lyrikline.org
Latin.log
fixpoetry

*alba - lateinamerika lesen ist eine Zeitschrift, die ich 2011 angeregt von Guillermo Bravo gründen helfen durfte, und die sich der Verbreitung junger lateinamerikanischer Literatur verschrieben hat. Zwei der drei Ausgaben sind hier als E-Papier nachzulesen.

Mittwoch, 17. Juli 2013

Ruta Dos von Daniel Calabrese


Daniel Calabrese 2010 in Masaya, Nicaragua. Foto: Timo Berger
Vor ein paar Tagen schon erreichte mich der Gedichtband "Ruta Dos" von Daniel Calabrese (Aguilar, Santiago de Chile, 2013). Den argentinischen Dichter, der seit 1991 in Santiago de Chile lebt, lernte ich 2010 bei Festival Internacional de Poesía in Granada kennen. Einmal lasen wir zusammen in einer Schule in Masaya. Im selben Munizip befindet sich aus der gleichnamige aktive Vulkan. Nach der Lesung verzichteten wir darauf, im Kleinbus wieder nach Granada zurückzufahren, und nahmen ein Taxi, das uns bis an den Vulkanrand brachte. Schwefeldämpfe benebelten uns und der Wind zerzauste unsere Haare. Nach den vielen Jahren in Chile hat Daniels argentinischer Akzent sich verschliffen und seine Redeweise sich ein wenig dem leiseren Chilenischen angenähert. Er sprach so angenehm wie der Tonfall, in dem seine unaufgeregten, wohlgeformten Gedichte gehalten sind, von denen ich mich hier an eine Übersetzung wagen darf.


Posición

Soy el mozo que me atiende,
el tipo que me cuida el auto,
la vieja que lava mi ropa.
Y todos los días, un poco,
aquellos ojos que miran desde lejos.

Soy el jefe victorioso,
ese que ordena mi vida y sus necesidades,
pero soy también un perro modesto
que merodea por la plaza
y a veces el carcelero que tiene el aura
muy chica, pegada a su cabeza.

En general, soy todos ellos
cuando tengo los ojos cerrados.


Haltung

Ich bin der Kellner, der mich bedient,
der Kerl, der auf mein Auto aufpasst,
die Alte, die meine Wäsche wäscht.
Und jeden Tag ein wenig jene Augen,
die mich aus der Ferne betrachten.

Ich bin der erfolgreiche Chef,
der mein Leben ordnet und meine Bedürfnisse
aber ich bin auch der unscheinbare Hund,
der um den Platz streunt
und manchmal der Wärter, dessen Aura
winzig ist und ihm am Schädel klebt.

Im Großen und Ganzen bin ich sie alle,
wenn meine Augen geschlossen sind.



Der neue Gedichtband "Ruta Dos". Dahinter "Oxidario" von 2001.

Daniel Calabrese, geboren 1962 in Dolores (Provinz Buenos Aires) lebt seit 1991 in Santiago de Chile. Er hat mehrere Gedichtbände veröffentlich. Seine Gedichte wurden ins Englische und Japanische übersetzt. Er betreut die Veröffentlichungen des Verlags RIL editores in Santiago de Chile.

Dienstag, 9. Juli 2013

La Pajera de Once von Washington Cucurto


Washington Cucurto in einem Internetcafé in der Sonnenallee, Berlin, Neukölln, 2004. Foto: Timo Berger


Heute erreichen mich drei Bücher von Washington Cucurto. Eines davon möchte ich heute hier vorstellen. La Pajera de Once lautet der Titel, erschienen im Juni 2012 bei VOX in Bahía Blanca - ein Projekt zwischen Bildender Kunst und Independantverlag mit einem Verleger (Gustavo López) genauso unermüdlich wie Washington Cucurto selbst, der in seinem bürgerlichen Leben eigentlich Santiago Vega heißt. "Cucu", wie ihn in seine Freunde bisweilen nennen, lernte ich 1998 im argentinischen Winter in Buenos Aires kennen. Ein Gruppe von Dichterinnen, die ursprünglich aus Bariloche stammten und zum Studieren in die argentinische Hauptstadt gekommen waren, spannte damals jeden Samstag nachmittag eine Wäscheleine zwischen die Bäume der Plaza Almagro und hängte daran Gedichte auf. Passanten wurden angehalten, sie zu lesen, mitzunehmen oder gegen eigene einzutauschen. Eines Tages brachten Freunde der Dichterinnen (ich weiß nicht mehr ob Mario Varela, José Villa oder Daniel Durand) einen noch etwas schüchternen Jungen mit, der mir aber sofort auffiel, weil er sich anders bewegte, anders sprach als die Dichter, die ihn mitgebracht hatten. Er hatte große, forsche Augen, die alles sehr genau registrierten. Und dann bat man ihn, ein Gedicht zu lesen. Er zog eine Zeitschrift (La Novia de Tyson) aus einer Tasche und las: Oración de un repositor de supermercado (Gebet eines Regalauffüllers im Supermarkt). Ein Langgedicht über Fußballfans aus den Vororten und die Dialektik ein Argentinier aus der Unterschicht zu sein: ökonomisch marginalisiert und in der politischen Gedankenwelt der (vermeintliche) Protagonist der Nation. Ich war hin und weg. Daniel Durand versicherte mir damals (oder einige Tage später), das Gedicht sei unübersetzbar. Allein schon wegen der Schmähnamen der Fußballclubs. 2002 erschien dann eine erste Nachdichtung in der Leipziger Literaturzeitschrift edit, 2004 dann beim Berliner Süßwarenautomatenverlag SuKuLTuR eine überarbeitete Version in der Sammlung Die Maschine, die kleine Paraguayerinnen macht. Aus Cucurto aktuellem Gedichtband nun ein Gedicht und meine Übersetzung ins Deutsche (Work in Progress).


Leónidas Carlos Lamborghini

Ayer murió Leónidas Lamborghini,
no sé si salió en el diario,

Me llamó Santiago Llach
y me dijo: “Cucu, tildó el Lambo”.
¿O fue un mensajito de texto?

No importa. Lo que sí sé aunque
no venga al caso, es que el poeta
Martín Rodríguez mandó un mail
sin contenido, con el asunto:
“Murió la madre de Alejandro Rubio”.
Eso fue todo y eso es todo.

Me acuerdo que la noche que murió Mangieri
Fabi me llamó y me tiró mala onda.
Me preguntó si iba a ir al velorio y le
dije que no soportaba los velorios.

“Con todo lo que hizo por vos
y no querés ir al velorio”.

Estuve mal y estuvo mal.
Pero, ¿qué voy a ir a hacer a un velorio?
A José Luis prefiero recordarlo lleno de vida,
con el maletín lleno de libros por el centro.

Mientras escribo esto está muriéndose Abundio,
el pizzero de los tomates podridos.
Me dicen los vecinos: “¿vas a hacer algo?”
¡Qué quieren que haga…!

Murió mi padre, murió Cassius Clay, murió George Perec;
Gregory Corso murió en Roma.
Un día morirá Juan Gelman y Juanita Bignozzi,
yo y mis hijos y todos. No importará, por supuesto.
Es una obviedad lo que digo.
Es increíble que la muerte sea una obviedad…

Mi vieja me llama y me dice (ella no morirá nunca):
-“¡Devolveme la olla que te presté!”.



Leónidas Carlos Lamborghini

Gestern ist Leónidas Lamborghini gestorben,
ich weiß nicht, ob es schon in der Zeitung stand,

Santiago Llach rief mich an
und sagte: "Cucu, Lambo ist hinüber".
Oder war es eine SMS?

Egal. Wo ich mir allerdings sicher bin,
auch wenn es damit nichts zu tun hat
der Dichter Martín Rodríguez schickte eine Mail
ohne Inhalt mit dem Betreff:
“Die Mutter von Alejandro Rubio ist tot”.
Das war alles und ist es noch.

Ich erinnere mich, dass mich Fabi in der Nacht,
in der Mangieri starb, anrief und anmachte.
Er fragte, ob ich zur Beerdigung ginge und ich
antwortete, dass ich Beerdigungen nicht ertrüge.

“Er hat so viel für dich getan
und du willst nicht mal zur Beerdigung”.

Das war falsch von mir.
Aber, was hätte ich auf einer Beerdigung verloren?
An José Luis errinnere ich mich lieber am Leben,
mit dem Koffer voller Bücher im Zentrum.

Während ich das hier schreibe siecht Abundio dahin,
der Pizzabäcker der verfaulten Tomaten.
Die Nachbarn sagen zu mir: “Machst du was?”
Was soll ich denn machen …!

Mein Vater ist gestorben, Cassius Clay, George Perec;
Gregory Corso ist in Rom gestorben.
Eines Tages sterben auch Juan Gelman und Juanita Bignozzi,
ich und meine Kinder, alle. Egal wer, selbstverständlich.
Es lieg auf der Hand, was ich sage.
Es ist unglaublich, dass der Tod so selbstverständlich ist …

Meine Mutter ruft mich an und sagt (sie wird nie sterben):
“Bring mir den Topf zurück, den ich dir geliehen habe!”


Der aktuelle Titel mit einem Manuskript von Washington Cucurto


Washington Cucurto (alias Santiago Vega) wurde 1973 in Quilmes, einer Stadt im Speckgürtel von Buenos Aires geboren. Er veröffentlichte Gedichtbände und Erzählungen und (unter anderen) den Roman "Cosa de Negros". 2004 gründete er den Verlag Eloísa Cartonera der seitdem in Zusammenarbeit mit ehemaligen Papiersammlern Kartonbücher herstellt. 2012 wurde das Projekt mit dem Preis der niederländischen Prince Clause Foundation ausgezeichnet. Seine Texte wurden ins Englische, Französische, Portugiesische und Deutsche übertragen. Washington Cucurto lebt in Buenos Aires.


Weiterführende Links // Enlaces:

Gedicht von Washington Cucurto im Latin.Log // Poema de Washington Cucurto
Entrevista con Washington Cucurto
Prolog zu "Mehr als Bücher", in Berlin erschienene Anthologie mit Kartonbuchautoren // Prólogo de "Más que libros", antología publicada en Berlín de autores cartoneros