Donnerstag, 6. November 2014

Espuma sobre piedras von Wingston González

Wingston González 2014. Foto: Timo Berger
Es war schon spät, aber Wingston González, bestand auf einen Besuch. Nimm den Metrobus, riet er mir. Es ist schon dunkel, war ein Einwand, den er ernst nahm, aber eine Lösung parat hatte: Bleib um Himmels Willen in der Station des Metrobus, Plaza Barrios, ich hole dich ab, sagte er und legte auf. Abends an einer Metrobushaltestelle in der Zona 9 zwischen Hotelhochhäusern und Autofriedhöfen zu warten, stimmt melancholisch. Wenn man in Guatemala-Stadt abends in den Metrobus steigt, fühlt man sich als Mitteleuropäer plötzlich wie ein Alien. Man wird angesehen und überragt die meisten um einen Kopf. Was auffällt neben der rasanten Geschwindigkeit des Metrobus, ist das Schweigen der Passagiere. Nur die Blicke sind laut. Bleib um Himmelswillen in der Station! klingt mir die ganze Fahrt über in den Ohren und auch als ich auf der überhöhten Mittelbucht an der 9a Avenida aussteige. Ich blicke aus dem überdachten Station nach draußen, der Platz nebenan mit der Reiterstatue ist fast verwaist, die Passagiere verlieren sich in der Dunkelheit. Plötzlich steht Wingston neben mir. Nach einer herzlichen Umarmung zieht er mich ins Freie und lotst mich in eine Sackgasse, dort steht ein Auto bereit, kein offizielles Taxi, einer der unzähligen Einwohner von Guatemala-Stadt, die sich mit Fahrdiensten verdingen. Wir werden ins Auto gewunken, wie noch zwei, drei weitere Passagiere. Zuerst drehen die Räder auf den Kieselsteinen durch, dann nimmt das Gefährt an Fahrt an. Wingston weist auf Gebäude, die an uns vorbeiziehen, zeigt den Wechsel der Viertel an, erklärt die Stadt. Wir nähern uns seinem Viertel, er sagt, wir müssen noch Brot holen, ich sage, ich bezahle die Getränke und er hält den Fahrer an, lass uns an der Ecke raus. Gegenüber ist eine Bäckerei, die noch offen ist. Eine ältere Frau streicht Teig für Maistortillas auf eine Herdplatte aus Gusseisen, unter der sich die Glut befindet. Wir kaufen zehn frischgebackene Tortillas. Und einen halben Block weiter Bier, Limo und Wasser. Wingston ist ein großer Menschenfreund. Seine Augen strahlten als er an jenem Abend, nach der Odyssee mit Metrobus, „Ersatztaxi“ und Fußmarsch endlich seine Dampfkochtopf öffnen konnte. Bohnen befanden sich darin, Würste und ein wenig Speck, Reis und Salat wurden dazu serviert, ein harmonischer Gesamtklang entstand. So wie in seiner Dichtung, die – ohne eurozentristische Hierarchien – die Erinnerungen und Sprache der Sklaven mit den Zitaten aus der angelsächsischen Lyrik, der spanischsprachige Dichtung Lateinamerikas und dem Straßenslang Guatemala-Stadts vermischt. Ende 2013 kam er als Gast der Latinale nach Berlin, zuvor hatte uns unser gemeinsamer costaricanischer Verleger Juán Hernández per geteilter Email bekannt gemacht und wir hatten uns schon fast ein Jahr lang virtuell unterhalten, über das Wetter, seine und meine Arbeit, unsere Familien und über seine Gedichte, die ich übersetzte. Als wir uns endlich persönlich trafen, war es wie einen alten Bekannten zu treffen.



Eine neue Übersetzung aus seinem neuesten Band "Espuma sobre piedra" (2014), die für das Goethe Institut México entstanden ist.

Mito de otro mismo

Era un niño artificial. Un
extraño niño artificial en una
especie de pradera plástica
Un niño destructor de todo lo
que tocaba, lo que le tocaba y
lo que, al final de la noche entra
a habitar su dos corazones
Ese niño era yo. Un fulano pequeño
que quería el hoy como se quiere
un puñado de diamantes
en la calavera de la abuela. O
como deseamos todos, por decir algo
llegar a fósil, al menos a gota
de ADN conservada en ámbar
en una jungla del Caribe
Ese chico soy yo. Una suerte
de paraíso maldito, edén recobrado
por una expansión que suelta las
riendas de su insignificante cólera
Preocupado por las palabras
mejor tratadas por otros, un
animal mediocre hilado a una
santidad invertida, a esta
presencia sin aura, sin arco
Qué mierda. Saber que morimos
no significa que morimos
Con los días la ceguera
me hace menos inmisericorde y
lloro por prados y nubes
El niño sospecha que un difunto
va de caminata en su pecho aún
deforme: Todo lo que está dentro
se halla más completo afuera
mucho mejor y a contraluz
Y con los días, se abalanza
sobre paz e insecticidas
y cree que el mar de Europa
es limbo helado por sus
sueños, un cerebro; que la radiación de
Júpiter es cosa de las palabras
que apenas sabe ordeñar
Ese niño seré yo. Una imagen
del Livingston del año 93:
los cartuchos se derriten con
el aliento venenoso del
cielo; las dos calles prin
cipales del pueblo tarta
mudean juntas una canción
que nadie ha querido
recordar siquiera; una casa de naipes
justo detrás de la sinagoga
se derrumba sin asombro ni
lámpara que cuide
la exactitud inofensiva
de la demolición. Sol de óxido
oxígeno en llamas, oh, dos
soles filtrados en la Historia
de la Cultura. ¿Ven? Qué
miserables lagartos
en una fuente de cemento
El río vidrioso tan cerca
de las estrellas despintadas
de un equipo de básquet
Y cree, sospecha, que con
los días que pasen podrá
sobrevivir al magnético
sonido de la gloria, la sim
pleza de la gloria, que
no sabrá apenas consiste
en lubricidades sencillas
en pájaros y alacranes
en adornos de papel deca
dentes y fiesta de cumpleaños
Llorar a secas y sin mucha
pasión las calles que alguien
borra de un mapa de escuela
Qué será del niño gótico
para el que la cultura
es una acumulación de ideas
provistas para ser borradas
por la entropía. Nada
escrito mármol, todo
a merced de una desconocida
energía que expande, que divide
las necedades de la gente
que mañana, a esta hora
habrá olvidado su propia
sangre congelada

Mythos des anderen Selbst

Er war ein unechter Junge. Ein
seltsam unechter Junge auf einer
Art Wiese aus Kunstrasen
Ein Junge, das alles zerstörte
was er berührte, was ihn berührte und
was am Ende des Tages in
seine zwei Herzen hineinschlüpfte
Jener Junge war ich. Ein Knirps
der das Heute liebte, wie man
eine Handvoll Diamanten
im Schädel seiner Großmutter liebt. Oder
wie wir uns, etwa, wünschen
es bis zum Fossil zu schaffen, zumindest zum DNA-
Tropfen, konserviert in Bernstein
im Dschungel der Karibik
Jener Junge bin ich. Ein ver-
wunschenes Paradies, der Garten Eden
wiedererlangt durch einen Ausbruch, der die Zügel
seines haltlosen Zorns schießen lässt
Er ist besorgt um die Worte
mit denen andre besser umgehen, ein
gewöhnliches Tier angebunden
an einen inversen Heiligen, an eine
Figur ohne Zauber, ohne Bogen
Was für ein Scheiß. Zu wissen, dass wir sterben
bedeutet nicht, dass wir sterben
Mit den Tagen lässt mich die Blindheit
weniger hart sein und
ich weine um Weiden und Wolken
Er fürchtet, dass ein Verstorbener
in seiner noch entstellten Brust
wandert: Alles, was in ihr ist
findet sich draußen vollständiger
besser und im Gegenlicht
Und mit den Tagen stürzt sich der Junge
auf den Frieden, auf Insektizide
und glaubt, dass Europas Meer
die von seinen Träumen vereiste
Vorhölle sei, ein Gehirn; dass die Strahlung des
Jupiters eine Sache der Worte sei
die es selten zu melken versteht
Jener Junge werde ich sein. Ein Bild
von Livingston im Jahr 1993:
die Callas vertrocknen
im giftigen Atem des
Himmels; die beiden Haupt
straßen der Stadt stot
tern zusammen ein Lied
an das sich gar niemand
erinnern wollte; ein Kartenhaus
genau hinter der Synagoge
stürzt in sich zusammen ohne Stauen, ohne
Lampe, die darüber wacht
dass der Abriss gefahrlos und sorgfältig
von statten geht. Rostrote Sonne
Sauerstoff in Flammen, oh, zwei
Sonnen scheinen durch die Geschichte
der Kultur. Seht ihr? Was für
bedauernswerte Kaimane
in einem Zementbrunnen
Und der glasige Fluss so nah
an den ausgeblichenen Sternen
eines Basketball-Teams
Und er glaubt, vermutet, dass es mit
den Tagen, die verstreichen, den
magnetischen Klang des Ruhms
überleben wird, die Ein
fachheit des Ruhms, der
– er weiß es nicht – nur aus
Schlüpfrigem besteht
aus Vögeln und Skorpionen
aus dekadenten Papiergirl
anden und Geburtstagsfeiern
Schlicht und einfach, ohne große Leiden
schaft über die Straßen weinen, die jemand
auf der Karte der Schule auslöscht
Was wird aus dem gotischen Jungen
für den die Kultur
ein Anhäufung von Ideen ist
dafür bestimmt,
in der Entropie aufzugehen. Nichts
ist in Marmor gemeißelt, alles
fällt einer unbekannten
Energie anheim, die die Dummheit
der Leute ausdehnt und teilt
die Morgen, um genau diese Uhrzeit
ihr eigenes erstarrtes Blut
vergessen haben werden

Wingston González wurde ist 1986 in Livingston, Guatemala, geboren. Er hat mehrere Gedichtbände veröffentlicht, unter anderem "san juan – la esperanza" und “Miss muñecas Vudu” (beide 2013 erschienen).

Weiterlesen:
- Porträt auf Cuenta Centroamérica (deutsch)
- Retrato auf Cuenta Centroamérica (espanol)
- Gedichte auf lyrikline.org
- Gedichte in poet, Nr. 16, Frühjahr 2014

Montag, 7. Juli 2014

Lob der Reptilien von Julio Carrasco

Julio Carrasco. Foto: Timo Berger
Manchmal kommt es mir vor, als würde ich Julio Carrasco seit Ewigkeiten kennen. Dann wieder denke ich, ich kenne ihn eigentlich gar nicht. Was denkt er, wenn er wie 2011 eine Zigarre paffend vor mir steht. Hinter ihm das Mokalola, sein Stammcafé auf der Roten Insel in Schöneberg? Ich könnte es nicht sagen. Wenn man mit ihm spricht, chattet oder ihn auf Veranstaltungen und Empfängen beobachtet, merkt man, dass er immer nicht nur einfach da ist, wo er ist, sondern immer auch gleichzeitig woanders, dass er nebenher Emails beantwortet, einem Dritten einen vielsagenden Blick zuwirft, jemanden herbeiruft, permanent Netzwerke knüpft, Ideen weiterspinnt und Projekte festklopft. Oder einfach ein Buch, eine Zeitschrift aus seiner Tasche zaubert und der staunenden Runde präsentiert. Er hat etwas Kumpelhaftes, nennt sein Gegenüber gerne „hermano“, Bruder, und bleibt doch auf gewisse Weise distanziert, undurchdringlich, wenn nicht gar unvorhersehbar. Eine tiefe Melancholie legt sich bisweilen auf seine Augen. In seinem dichterischen Schaffen, seinen poetisch-technoiden Aktionen mit der Gruppe Casa Grande, seinen Auftritten mit der Band Los Muebles hat er mal hat genialische Ideen, mal verliert er sich (allein oder mit Mitstreitern) in skurillen Spielereien. Vor ein paar Tagen erreichte mich sein neuester Gedichtband „Elogio de los reptiles“ (Tácitas, Santiago de Chile, 2014) aus den Händen einen anderen Dichter, der in Berlin lebende Chilene José Pablo Jofre. Den Umständen geschuldet, kam ich seit langem einmal wieder dazu, einen Gedichtband zu lesen. Und ich muss gestehen, ich setzte den Band erst ab, als ich ihn – noch vor dem Frühstück auf nüchternen Magen – zu Ende gelesen hatte. Es sind prosaische Gedichte, die kleine Geschichten erzählen, die literarische Zitate, Zeitungsnachrichten, populäre Weisheiten und Tierfilme miteinander verweben. Es sind Montagen mit einem lyrischen Ich, dem oft nicht das gelingt, was er sich vornimmt oder dem genau das passiert, was er sich nicht vornimmt, der über Piranhas sinniert und Haie, in einem Moment emphatisch über sie spricht, im nächsten bitterbös. Zwei, drei Gedichte kannte ich schon von einer gemeinsamen Lesung 2012 im von Martin Jankowski geführten Literatursalon am Kollwitzplatz, wovon eines und seine Übersetzung unten zu lesen ist. Ich musste immer wieder schmunzeln bei der Lektüre seines Gedichtsband, auch einmal herzlich lachen. Julio sah ich im Winter 2011, Frühling 2012 mehrmals in Berlin, er wohnte in der Nachbarschaft, in einer Parallelstraße. Einmal saßen wir zusammen in der letzten 80er-Jahre-Rockerkneipe der Roten Insel. Gegenüber zog sich damals noch ein Band von Autowerkstätten. Kurz nachdem Julio wieder nach Santiago de Chile zurückfuhr, schloss die Kneipe, wurden die Werkstätten abgerissen und ein Park angelegt. Wenn man ihn traf, erzählte er – wie in seinen Gedichten – oft von unglücklichen Lieben und fernen Ländern, von Möglichkeiten und Abgründen. Die Selbstironie war für ihn das beste Mittel gegen das Scheitern. Doch spulen wir zurück: Zum ersten Mal begegnete mir Julio Carrasco im Internet – er schickte Gedichte, die für ein „bombardeo poético“, einen (wie die Literaturwerkstatt euphemistisch umdichtete) „Poesieregen“ übersetzt werden sollten, der anlässlich der Langen Nacht der Museen im August 2010 über dem Lustgarten niedergehen sollte. Julio und seine Dichtegruppe Casagrande traf ich in personae, als sie den Ort ihrer spektakulären Aktion in Augenschein nahmen und festlegten, aus welcher Richtung der Hubschrauber mit den Mitgliedern von Casa Grande hereinfliegen und seine Runden über dem Berliner Dom drehen und dabei Tausende von Gedichten junger chilenischer und deutscher Dichter abwerfen sollte. Wenige Tage später standen Hunderte von Menschen vor dem Dom und stritten sich um die vom Himmel herab segelnden und in der Dämmerung silbern glänzenden Kartonstreifen mit Gedichten. Ein unvergesslicher Moment auch für Nicht-Lyrikfreunde.

Über dem Lustgarten 2011. Foto: Timo Berger
Doch nun zu Gedicht und Buch.


Pequeña improvisación romántica

El nerviosismo me hizo comerme la uña del anular izquierdo
mientras revisaba por última vez el repertorio de mi examen de piano

Seguí tocando sin percatarme de que sangraba
y se mancharon tres o cuatro teclas del registro grave

Mi sangre sobre el piano me dije
Demoré unos cinco minutos en volver a la realidad

Esto sucedió hace algunos años, lo recordé porque
justo ayer, mientras fotocopiaba a la carrera los formularios
de un concurso de proyectos a punto de expirar
me corcheteé1 el pulgar sin darme cuenta

Caí en un lapsus al ver las páginas de los formularios
manchadas con sangre sobre la mesa de recepción

y sentí que debía escribir sobre aquella vez
cuando quedé ensimismado
mirando las teclas de un piano
manchadas con mi sangre


Kleine romantische Improvisation


Nervös wie ich war, kaute ich auf dem Nagel meines Ringfingers herum,
während ich das Repertoire meiner Klavierprüfung ein letztes Mal durchging

Ich spielte, ohne zu bemerken, dass ich blutete
und drei, vier Tasten in den tiefen Lagen besudelte

Mein Blut auf dem Klavier sagte ich zu mir selbst
Ich brauchte fünf Minuten, um wieder zu mir zu kommen

Das war vor ein paar Jahren. Gestern fiel es mir wieder ein
als ich wie ein Verrückter die Formulare für einen Antrag
fotokopierte, dessen Frist ablief, und mir dabei eine Klammer
in den Daumen tackerte, ohne es zu bemerken

Als mein Blick auf die Blutflecken an den Formularen
auf dem Tresen des Nachtportiers fiel, schweiften meine Gedanken ab

Mir wurde klar: Ich sollte über das andere Mal schreiben,
als ich gedankenverloren auf die Tasten
eines Klaviers blickte, die von meinem Blut
besudelt waren.



Julio Carrasco, geboren 1969 in Santiago de Chile, ist Musiker, Dichter und Ingenieur. Er hat in Kuba, Chile und Deutschland gelebt. Er hat die Gedichtbände „Despedidas Antárticas“ (Mercurio Aguilar, 2006), „Sumatra“ (Ediciones Tácitas) und „El Libro de los Tiburones“ (Editorial Cachiyuyo, 1995) verfasst. Er ist Mitglied des Künstlerkollektivs Casagrande, die besonders mit „Gedichtbombardments“ in Berlin, Warschau, London, Guernica, Dubrovnik und Santiago de Chile bekannt geworden sind. Er ist außerdem Sänger der Band Los Muebles.


Einige Gedichtbände von Julio Carrasco



Weiterlesen:
Aktuelles Interview
- letras.s5
- Casa Grande
- Video der "Bombardierung" mit Gedichten in London
- Video von Los Muebles, gedreht auf dem Tempelhofer Feld

Samstag, 15. Februar 2014

Nadia Escalante

Nadia Escalante. Foto: Timo Berger
Mexiko-City, im Herbst 2013. Die blaue Stunde bricht an. Auf dem Trottoir vor dem Goethe Institut in der Colonia Roma versammelt sich eine Handvoll Dichterinnen und Dichter für eine Lesung: Sara Uribe, Paula Abramo, Óscar De Pablo, Nadia Escalante, Maricela Guerrero, Luis Felipe Fabre, Luis Alberto Arellano. Als letzter trudelt Alejandro Albarrán ein – es fehlt nur noch Rocío Cerón, doch die soll im Rückstau des Feierabendverkehrs im Bundesdistrikt steckenbleiben und es auch bis zum Ende der Veranstaltung nicht schaffen). Einige der Mexikaner kenne ich schon persönlich, weil sie Gäste des Festivals Salida al Mar oder der Latinale waren, andere habe ich bisher nur online gelesen. Das letzte Tageslicht wird für ein Gruppenfoto verbrannt. Etwas Konversation. Abtasten. Schüchterne Umarmungen. Dann geht es schon nach drinnen. In der Bibliothek im Erdgeschoss des Goethe-Instituts wird Wein ausgeschenkt. Verabredet ist eine „Expresslesung“ – jeder Dichter liest nur zwei Gedichte, es gibt weder einleitende Worte noch Moderation (biografische Angaben können mithilfe der eigenen elektronischen Gadgets recherchiert oder in einer à la occasion erstellten Minipublikation nachgelesen werden). Ein Lesungskonzept, das Maricela Guerrero vorgeschlagen hat, und mich auf Anhieb überzeugt hat. Ich sitze auf einem Barhocker, meine zwei Gedichte schon gelesen, und blicke in die Augen eines aufmerksamen Publikums. Es geht blitzschnell weiter. Poetiken, Styles, Timbres und Haltungen wechseln sich ab. Die mexikanischen Poeten werden ihrem Ruf als begnadete Entertainer gerecht. Und ernten verdienten Applaus für ihre Wortkaskaden, ihre humorvollen Selbstkasteiungen, ihre Loops mit minimalen Variationen und treffsicheren Pointen. Eine fällt mir auf, weil sie etwas leiser auftritt, verhaltener liest: Nadia Escalante. Wieder in Deutschland – lese ich ihre Gedichte ein zweites Mal und finde eines davon in seiner Schlichtheit schlicht großartig. Es folgt weiter unten – auch wenn mir im Augenblick gar nicht nach Melancholie zumute ist, ich aber zugegebenermaßen jetzt gerne in Baja California am Strand säße – wie Ihr sicher auch ...

 
Puerto Nuevo

Comimos langosta,
de espaldas al mar,
sobre un tapanco.

(Yo no conocía aquel sitio
ni había comido langosta.)

Éramos los únicos comensales.
Los músicos para turistas se ofrecían.
No quisimos.
Tú no parabas de hablar.

Dividimos la langosta
–una mitad para cada uno–
y las tortillas de harina
de las que no hacen en el sur.

(Yo nunca había comido esas tortillas.)

Bajamos a la playa;
la brisa acariciaba una herida fresca.

Tirados frente al mar y con los codos en la arena,
nos dividimos la brisa
y la música para turistas a lo lejos;
también dividimos
una separación que se acercaba
–una mitad para cada uno–
y el sonido de las olas
para no tener que hablar.



Puerto Nuevo

Wir aßen Languste
auf einer Empore
mit dem Rücken zum Meer.

Ich kannte weder den Ort
noch hatte ich jemals Languste gegessen.)

Wir waren die einzigen Gäste.
Die Musiker für Touristen erboten sich,
wir wollten nicht.
Du redetest ohne Punkt und Komma.

Wir teilten die Languste
– eine Hälfte für jeden von uns –
und die Weizentortillas
die man im Süden nicht macht.)

Wir gingen runter zum Strand;
die Brise streichelte eine frische Wunde.

Das Meer vor uns, die Ellbogen im Sand,
teilten wir uns die Brise
und die Musik für Touristen aus der Ferne;
wir teilten auch
eine Trennung, die näher kam
- eine Hälfte für jeden von uns –
und das Rauschen der Wellen,
um nicht sprechen zu müssen.


Nadia Escalante wurde in Mérida, Bundesstaat Yucatán in Mexiko vor 31 Jahren geboren. Sie war Stipendiatin der Fundación para las Letras Mexicanas (2008 bis 2009 und 2009 bis 2010) und des Fondo Nacional para la Cultura y las Artes, in der Kategorie „Jóvenes Creadores“ (2012-2013). Ihr erster Gedichtband „Adentro no se abre el silencio“ wurde 2010 vom Fondo Editorial Tierra Adentro veröffentlicht.

Weiterlesen:

- Die Gedichte, die gelesen wurden
- Mehr Gedichte von Nadia Escalante
- Interview mit Nadia Escalante
- Biografien aller Lesungsteilnehmer

Donnerstag, 16. Januar 2014

Juan Gelman

Juan Gelman auf der Frankfurter Buchmesse 2010. Foto: Timo Berger
Juan Gelman, geboren am 3. Mai 1930 in Buenos Aires, gestorben am 14. Januar 2014 in Mexiko-Stadt. Das erste Buch, das ich von ihm las, war "Exilio", verfasst zusammen mit Osvaldo Bayer - den ich von meiner Arbeit für das Forschungs- und Dokumentationszentrum Chile-Lateinamerika e. V. kannte - in dem schmalen Bändchen, in dem ich von Bayer sehr viel über Berlin (wohin er während der letzten argentinischen Militärdikatur ins Exil gegangen war) erfahren, über preußische und muslimische Friedhöfe und ihr Verhältnis, etwa. In "Exilio" war auch eine Serie von Gedichte betitelt mit Unterm fremden Regen, in der Juan Gelman sein Exil in Italien lyrisch verarbeitete. Den nächsten Band, den ich las war Dibaxu, ein Versuch Gelmans das alte Judenspanisch der Sepharden für die moderne Dichtung zu reanimieren. Dann verlor ich ihn zugegebenermaßen aus den Augen. Die jungen Dichter in Argentinien hatten teilweise eine sehr polemische Haltung ihm gegenüber. Daniel Durand schrieb einen wütenden Text betitelt mit "Gelman asesino" und klagte ihn an, weil er angeblich als Mitglied der linksperonistischen Guerilla Montoneros eine Kontraofensive als Presseverantwortlicher mitlanziert hatte - bei diesem letzten Aufbäumen des Widerstands wurden viele junge Kämpfer verheizt, die meisten Kader waren längst im sicheren Ausland. Ob und wie viel Verantwortung Gelman tatsächlich trägt ist umstritten. Fakt ist aber, dass er, als er nach langen Jahren des Exils wieder nach Argentinien kam - für eine Lesung, die Fabián Casas mitorganisierte, und bei der zum ersten Mal ein junger Argentinier, von dem man später noch sehr viel hören und lesen sollte, in Berührung mit der Dichtkunst kam, die Lyrikszene wiederbelebte. Der Bruch durch das Exil und das "Verschwinden" zahlreicher rennomierter und engagierter Dichter und die innere Immigration der Verbleibenden begann sich langsam durch eine nachwachsende Generation zu überbrücken. Der Dichter und Autor, der später einen eigenen Verlag gründen sollte, hieß übrigens Washington Cucurto. Juan Gelman persönlich traf ich dann im Oktober 2010 - Argentinien war Ehrengast der Frankfurter Buchmesse. Ich sah ihn in den Gängen der Halle 5 im ersten Stock, hatte gerade die Kamera umgehängt und fragte ihn mit einer Geste, ob ich ihn fotografieren dürfe. Er nickte und legte den Kopf schräg. Wir sprachen nicht miteinander. Er war gerade in ein anderes Gespräch vertieft, und ich hätte in dem Moment wirklich nicht gewusst, was ich zu ihm hätte sagen sollen. Doch werde ich wohl öfters an ihn denken. An seinem Todestag, am 14. Januar diesen Jahres, wurde einer geboren, von dem noch nicht klar ist, ob er irgendwann etwas mit Dichtern, Büchern oder Verlagen zu tun haben wird: mein Sohn Jonathan Levi.Vielleicht wird er Ingenieur, wie seine beiden Großväter. Und Ingenieure werden immer gebraucht, auch in Zeiten des E-Book.