Donnerstag, 26. November 2015

Wie im Stummfilm

The Driver
Im Rückspiegel verschwanden die letzten Häuser von Czernowitz, die Reklametafeln und Schornsteine. Und auch die drei Tage, an denen ich Gedichte hörte und las, den schizophrenen Alltag eines Landes erlebte, in dem ein unerklärter Krieg tobt. Mehr als drei Stunden brauchte ich mit dem Taxi ins 135 Kilometer entfernte Iwano-Frankivsk, wo ich den Bus nach Lemberg nehmen sollte. An jenem Sonntag fuhr der Zug erst spät, sodass ich das Flugzeug über Wien nach Berlin verpasst hätte. Czernowitz, die historische Hauptstadt der Bukowina, liegt fernab der europäischen Verkehrsrouten, die Überlandstraße H10 war eine einzige Katastrophe.
Doch ich blickte gerne in den Rückspiegel auf die überwundenen Schlaglöcher. Genoss die holprige Fahrt, das Schweigen im Taxi, weil der Fahrer und ich keine gemeinsame Sprache hatten. Ich ließ die Bilder des Festivals an mir vorbeiziehen. Der Präsident, Svyatoslav Pomerantsev, der es im Prunksaal der Jurij-Fedkowytsch-Universität mit einem Selfie vor den Publikum eröffnet hatte. Die jungen Dichter wie Dmytro Kazakow oder Arsenij Tarasow, die über den Krieg sprachen. Die alten Dichter wie Borys Chersonskyj, die von einem anderen Krieg sprachen, der aus dem multikulturellen Czernowitz eine sowjetische Stadt gemacht hatte. Und dann der Whisky spät nach einer Lesung im Paul-Celan-Literaturzentrum und der Rotwein noch später in Serhij Zhadans Hotelsuite, die dem Schlagerstar Iwo Bobul gewidmet war, der Lieder wie „Die Seele des Brunnens“, „Mondrad“ und „Ich werde in die Ukraine zurückkommen“ geschrieben hat.
Off the records
Zwischen Modellen der Lieblingsgitarre, bekannten CDs und Fotografien des Sängers erzählte Serhij in einen Bademantel gehüllt eine Anekdote über Iwo Bobul nach der anderen, die ich – der ukrainischen Sprache nicht mächtig – nicht verstand. Doch ich liebte dieses Gefühl, eingetaucht in eine Welt zu sein, in der mir alle wie Schauspieler in einem Stummfilm vorkamen. Bei den Lesungen auf dem Festival bekamen wir dagegen zwei weitere Stimmen geliehen, eine russische von Marc Belorusec und eine ukrainische von Petro Rychlo. Und die Gedichte erhielten neue Laute, eine ungewohnte, aber sonore Tonlage. Der hagere Belorusec und resolute Rychlo sind Altmeister der Übersetzerkunst, beide haben die fast alle Gedichte von Paul Celan übersetzt.
Celan – ein wenig der Grund, warum mir der Name Czernowitz vor meinem Besuch überhaupt etwas sagte. Und ja, seine poetologische Rede „Der Meridian“ ist Namensgeber des Festivals – und natürlich sitzt die Leitung desselben im Paul-Celan-Literaturzentrum an der Ul. Ohla Kobylianska, wenige Querstraßen von seinem Geburtshaus in der Ul. Saksahanskoho 5 entfernt, eigentlich einer Souterrain-Wohnung in einem leicht heruntergekommenen Hinterhaus. Kein Wunder, dass man jahrelang das pompöse Vorderhaus für Celans Geburtshaus hielt. Auch dies ein Zeichen, wie sehr die Brücken zwischen der Vergangenheit als habsburgische, als rumänische, als sowjetische Stadt und der ukrainischen Gegenwart ein fragiler Konstrukt sind: Es muss nicht nur erinnert werden an die einstige kulturelle Größe und Glanz, es müssen auch ganz reale Orte gefunden oder neu geschaffen werden. Denn der Großteil der Bevölkerung wurde im und nach dem 2. Weltkrieg ausgetauscht: deportiert, vertrieben, geflohen, umgesiedelt. Die Zuzügler mochten sich nach dem Krieg wie Schauspieler in Kulissen, die andere errichtet haben, gefühlt haben.
Dmytro Kazakow
Und doch spürt man überall, dass die Czernowitzer dieses kulturelle Vermächtnis nicht nur erinnern, sondern ihm neues Leben einhauchen. Paul Celan ist hier ein ukrainischer Dichter, und man hört Bewunderung heraus, wenn ein junger Dichter aus Czernowitz dem deutschen Gast den im Literaturzentrum an die Wand gemalten Vers „Schwarze Milch der Frühe wir trinken dich nachts“ in tadellosem american english erklärt: „It is from his most important poem. About the war.“ Und der Krieg ist wieder da. Dmytro Kazakow im Trenchcoat erzählt mir, sein bester Freund, wie er ein Dichter, sei jetzt gerade an der Front. Über soziale Medien tausche man sich aus. Er selbst würde sich sofort freiwillig melden – wenn er nicht für den Dienst an der Waffe untauglich wäre. „Es ist unser Land“, sagt er – und das obwohl er russischsprachig ist, aus der Südukraine in der Nähe von Odessa stammt. Der Konflikt, merke ich, ist komplexer als es aus der Außensicht erscheint. Zhadan selbst fährt regelmäßig in die Gebiete hinter die Front in humanitärer Mission. Jurij Andruchowytsch, der andere Grande der aktuellen ukrainischen Literatur, tritt bald mit seiner Band in Mariupol auf, einer der zwischen Regierungstruppen und von den Russen unterstützten Rebellen umkämpften Stadt. Es geht nicht um russisch oder ukrainisch, es geht um eine Invasion. In Dmytro Kazakows Blick blitzt Verzweiflung auf, dann lacht er wieder, erinnert an die Nacht zuvor, im Luxusapartment von Iwo Bobul, mit Zhadan und den anderen. Und das ist genau der Widerspruch den das Land gerade lebt. Zwischen Feldpost und Partys, zwischen zivilem Engagement hinter der Front und kulturellem Austausch mit Europa.
Czernowitz
Im Rückspiegel verschwinden die letzten Häuser der Stadt. Ein Regenguss verwandelt die staubige Straße in eine matschige Rutschbahn. Der Fahrer flucht leise in sich hinein, kurbelt die Scheibe ein wenig hinunter, steckt sich eine Zigarette an. Es ist ein Rennen gegen die Uhr, dass wir schließlich verlieren. Laut Fahrplan ist der Bus schon abgefahren. Doch er steht noch da auf dem behelfsmäßig wirkenden Busbahnhof in Iwano-Frankivsk an der Ausfallstraße. Voll besetzt ist das klapprige Gefährt, aber der Fahrer verkauft Stehplätze auf eigene Rechnung. Insgeheim hatte ich gehofft, noch länger in diesem Land zu verweilen, das obwohl im Osten ein nicht erklärte Krieg tobt, die Fremden mit offenen Armen empfängt. Das englisch, deutsch spricht, das von Europa träumt, wie wir schon längst nicht mehr.